ICH-Gedichte

ich bin jener der im 81. lebensjahr ist
ich bin jener der krebs hat
ich bin jener der gedichte schreibt
ich bin jener der gerne musik hört
ich bin jener der mozart-musik liebt
ich bin jener der mit dir seit 40 jahren lebt
ich bin jener der nicht mehr an gott glaubt
ich bin jener der stets sehr diszipliniert ist
ich bin jener der sehr ernst geworden ist
ich bin jener der darauf wartet was kommt
ich bin jener der weiß daß jammern nicht hilft
ich bin jener der leidenschaftlich gerne lebt
ich bin jener dem der abschied sehr wehtut
ich bin jener der sich in der stille wiederfindet
ich bin jener der wald wiesen und felder liebt
ich bin jener der am morgen schwarzen kaffee trinkt
ich bin jener der gerne und bedächtig wein trinkt
ich bin jener der viel auf reisen war um neues zu sehen
ich bin jener der jetzt alt und krank ist und demnach lebt
ich bin jener der gerne lange und intime briefe schreibt
ich bin jener den zeitgeschichte noch immer interessiert
ich bin jener dem die nazizeit noch immer in ihm präsent ist
ich bin jener dem jede art von gefolgschaft widerlich ist
ich bin jener der sich aufgezwungenen ordnungen widersetzt
ich bin jener der nie aus blinder begeisterung heraus mitschreit
ich bin jener dem man alles mit argumenten erklären muß
ich bin jener der verwundbar ist und übergriffe nicht vergißt
ich bin jener der stets für wahrheit und gerechtigkeit eintritt
ich bin jener der am liebsten einfach nur so dahinleben möchte
ich bin jener der aber weiß daß das
einmal sein ende haben wird

Wien, 19.10.2020

ICH

ich hab so viel in mir
vom sonnenaufgang
vom sonnenuntergang
von hellen tagen
von stillen nächten
vom meer und land
vom wolkenhimmel
von schwarzer erde
von flammendrotem laub

ich hab so viel in mir
von deinem lachen
von meinem schweigen
von wasser blume strauch
von vogelflug und wind
von angeschwemmten schätzen
von weißen häusern
von geheimnisvollen nischen

ich hab so viel in mir
von einem stummen wort
von einem schmerzensschrei
von einer schrift
die keine sprache kennt
von einem rittersporn
der blau im sommer stirbt

Wien, 25.5.1976

ERKLÄRUNG

Jeder Tanz
ist mir lieber
als Marschieren.

Ein Gespräch
ist mir lieber
als jeder Rede.

Die Stille
ist mir lieber
als der Lärm.

Ein Händedruck
ist mir lieber
als die Umarmung.

Der Einzelne
ist mir lieber
als die Masse.

Die Konfrontation
ist mir lieber
als jeder faule Frieden.

Tetovo/MKD, 31.8.1982

ICH-BEGEGNUNG

alte briefe lesen
von verstorbenen

von den verstorbenen brüdern
von der verstorbenen schwester

von den verstorbenen eltern
briefe an mich da ich noch lebe

plötzlich befinde ich mich
in einer völlig anderen welt

und kann nicht begreifen
wer ich damals denn war

und kann nicht verstehen
wer ich in wirklichkeit bin

Wien, 9.1.2020

IM NIRGENDWO

irgendwo im nirgendwo
da bin ich jetzt zuhaus

ungestört bin ich allein
in worten in gedanken

die weiße perlenkettean dir
läßt mich an liebe denken

ich bin nur noch vorübergehend
und nur noch kurze zeit bei dir

grelles abendrot flammt auf
in blinden fensterscheiben

alles ist ein rest von zeit
ich bin ein bruchstück nur

irgendwo im nirgendwo
da bin ich jetzt zuhaus

Wien, 7.7.2023

SCHNITTPUNKT

dort wo die wege
sich kreuzen

dort bin ich
am ende zu haus

halb ankunft
halb aufbruch

dazwischen
ein hiersein

ohne gewahrsam
nur in der freiheit

von hier und von jetzt
von damals und dort

die rückkehr bedeutet
nicht heimkehr

heimat ist anderswo
wo weiß ich nicht

Wien, 27.6.1990

ABEND AM MEER

eine möwe fliegt
über dem meer

dunkle wolken
fern am horizont

grün ist der baum
vor meinem fenster

ich denke zurück
an frühere jahre

finde mich wieder
in der erinnerung

aber so als wäre ich
ein fremder in ihr

Lanterna/Istrien, 31.8.199

WO ICH NOCH BIN

in den letzten strahlen
der sonne bin ich noch

im schrei einer möwe
über wogendem meer

in wellen der brandung
im grauen ufergestein

im rauschen des windes
im grünen blättergezweig

in der roten schweren erde
nach dem gewitterregen

in den wolken am himmel
im dunklen auge der nacht

in einer frage bin ich noch
und in der antwortlosigkeit

auf fremden wegen bin ich
in diesem weiten kargen land

Lanterna/Istrien, 28.6.2002

AM MORGEN

leise klavierklänge
irgendwo im haus

du fragst mich
wie es mir geht

ich sage danke gut
zittere am körper

wieviele morgen noch
denke ich bleiben mir

alles ist ja ungewiß
entweder so oder so

und alle meine wege
sind nahe am abgrund

den ich entlang gehe
an dem ich nun stehe

Wien, 11.8.2018

ERINNERUNG

jetzt erinnere
ich mich wieder

an die lichtspuren
der leuchtraketen

in einer kriegsnacht
als ich ein kind war

wir standen am fenster
und schauten hinaus

in die sternklare nacht
in das dunkel der welt

am fernsehschirm jetzt
erinnere ich mich wieder

an diese leuchtspuren
von zerstörung und tod

ich denke an die kinder
die an fenstern stehen

wie ich damals im krieg
voll staunen und angst

Wien, 14.2.1991

VERGANGENHEIT

alles
ist nur mehr
im rückblick

du sagst
das war einmal
das ist gewesen

du sagst
nicht mehr
das wird sein

du schaust zurück
auf dein leben
und denkst

nein
großartig
war es nicht

Wien, 16.6.2010

LEBENSLINIEN

die lebenslinien entlang
alle abgründe abtasten

und dich fragen ob du
abstürzt oder auch nicht

die liebe rettet dich nicht
das weißt du schon längst

vogelflüge spät am abend
über deinem niemandsland

die zeichen am himmel
du verstehst sie nicht

ein grenzgänger bist du
irgendwo ausgesetzt

erinnerungswege gehst du
und kommst nirgendwo an

in die verzweiflung hinein
treibt es dich ausweglos

alles ist schicksal sagst du
doch du glaubst nicht daran

nur augenblicke gibt es
das ist das leben sagst du

mehr nicht

Wien, 7.1.2005

DER KOFFER

Seit 36 Jahren steht
der Koffer meines Vaters
nun schon ungeöffnet
in meinem Keller.
Jetzt, da ich schon fast
genauso alt bin wie er,
als er damals fortging
mit seinem kleinen Koffer
ins Spital, werde ich
diesen alten Koffer öffnen,
weil ich wissen will,
was ich mitnehmen soll
ins Spital, wenn es
ans Sterben geht.

Wien, 10.8.2016

ABENDSTIMMUNG
im AKH Wien

Der Himmel
verbrennt
im Abendrot.

Die Mauern
der Gebäude
sind schwarz.

Die Fenster
leuchten glühend auf
in goldenem Glanz.

Wie lange noch
werde ich leben?

Wien, 14.10.2017

WIE LANGE NOCH

wie lange noch
wird all dies dauern

der sommerwind
auf deiner haut

daß du den frauen
ins gesicht siehst

daß die sehnsucht
in dir brennt

daß du das leben
spürst wie eben erst

in diesem augenblick
vor anbeginn der nacht

Wien, 22.9.2003

WAS ICH NOCH LIEBE

den purpur mag ich
und das aschenkleid

die nächte sanft
wie dunkle seide

das licht am himmel
wenn der abend kommt

ein letztes schweigen
wenn das wort verstummt

und eine vogelspur
im unberührten schnee

Wien, 11.12.1986

LEBENSWEG

ich bin
der sprache
verlorengegangen

und
dem schweigen
anheimgefallen

als der letztlich
einzig möglichen
antwort

Wien, 25.7.1984

LETZTES GESCHEHEN

du öffnest leise
eine dunkle tür
denn du befindest dich
in einem dunklen raum

du zeichnest leichthin
einen vogel in die luft
zupfst an einer saite
deiner kindergeige

dann klopfst du
an ein fensterglas
du wischst den staub
von deinen schuhen

dann gehst du wieder
in die nacht hinaus

Wien, 9.12.2008

IRGENWANN ABER SICHER

irgendwann aber sicher
werde ich so wie jetzt

zum letzten mal dann
alle drei schlösser

an meiner eingangstür
zur wohnug zusperren

nur werde ich dann
in diesem moment

es weder wissen
noch annehmen

daß dies im augenblick
zum letzten mal geschieht

nein denke ich mir jetzt
spar dir dein selbstmitleid

das ist für jeden menschen so
so ist das leben es ist eben so

Wien, 27.2.2021

LETZTES GESCHEHEN

Der rauschende Wind
im Blattwerk der Bäume.

Letzte Stille erfüllt jetzt
die abgedunkelten Räume.

Grelle Sonnenstrahlen,
die die Zeit zermahlen.

Immer dieses Wege-Gehen
dieses sprachlos Stillestehen.

Aufatmen wäre gefordert
in dieser schweren Zeit;

bevor sie anbricht,
die letzte Dunkelheit.

Berühre noch einmal
meine Hand,

bevor ich gehe
in das Niemandsland.

Bad Erlach/Wien, 25.4./19.5.2019

LETZTER ABSCHIED

Es wird ein Abschied sein
in meinem Leben;

von allen Dingen und
von allen Bildern;

von schönen Frauenhänden,
die mich einst berührt;

von großer Liebe und
von Leidenschaft;

von vielen Büchern,
die ich nie gelesen;

von Vogelflug und
leisem Windgeräusch;

vom Blau des Himmels und
vom Blau des Meeres;

von jedem Wort,
das ich, stets suchend, fand.

Es wird ein Abschied sein
von meinem Leben.

Rom, 27.5.2005

RELIKTE

das alles wird
mich überleben
denke ich

die hose
die schuhe
das hemd

die bücher
die bilder
das bett

das alles wird
mich überleben
denke ich jetzt

da ich alt bin
und todkrank
und am ende

Wien, 6.2.2017

ANORDNUNG

schmücke nicht
mein grab

ich hasse
diesen totenkult

streu meine asche
übers land

in einen wald
in einen fluß

schmücke nicht
mein grab

wenn du aber
im hochsommer

eine kornblume
siehst

so magst du
an mich denken

Wien, 21.10.2021

NACH MEINEM TOD

Wo werde ich sein,
wenn Du mich rufst?
Wirst Du mich rufen?
Werde ich Dich hören?

Wo werde ich sein,
wenn Du mich rufst?
Wird es mich geben?
Wenn ja: wo und wie?

Vielleicht als Winzigkeit,
als Elementarteilchen
in der Unendlichkeit
des Universums ohne
Raum und Zeit.

Vielleicht werde ich
im leichten Flügelschlag
einer über dem Meer
kreisenden Möwe sein;
im Schrei einer Amsel
im letzten Abendlicht.

Wo werde ich sein, frage ich,
wenn Du mich suchst; wo?

Vielleicht im Duft einer Blüte,
oder als eine Spur im Sand;
oder als Mulde im Schnee.

Vielleicht werde ich im Flackern
einer brennenden Kerze sein;
oder in einem Seufzer von Dir.
Oder in der Antwortlosigkeit.

Bad Erlach/Wien, 6.5./22.5.2019

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