ABEND IN VENEDIG
schwarze gondeln
liebespaare
spiegelbilder
tanzen wild
kirchenkuppeln
abendlicht
dein roter mund
an einem glas
in einer stunde
fährt mein zug
Venedig, Ostern 1978
VENEDIG-NOTIZEN
Der Himmel ist blau.
Die Fensterläden sind grün.
Die Steinmauern sind grau.
Die Dachziegel sind rot.
Die Stiege ist steil.
Der Turm ist hoch.
Die Tür ist verschlossen.
Das Wasser ist schwarz.
Der Tod ist mir nah;
ist mir näher als sonst.
Von irgendwoher
ertönt noch Musik.
Venedig, 2.-3.2.2007
IM MARKUSDOM
dunkle goldmosaiken
an wänden und kuppeln
die gestalten von heiligen
und von engeln rundum
immer ist es die stille
die mich hier aufnimmt
ein altar ist beleuchtet
davor das ewige licht
das bild des gekreuzigten
in einem kostbaren schrein
der steinboden ist gewölbt
als versinke mit ihm die zeit
Venedig, 2.-3.2.2007
VENEDIG
Tagesnotiz
stundenlange
fußmärsche
durch enge gassen
die kanäle entlang
bilder betrachtet
oder skulpturen
in einem museum
alte instrumente
geigen aus Cremona
auch ein violoncello
musik von Albinoni
und Vivaldi gehört
auf der Rialtobrücke
staunend gestanden
im letzten abendlicht
und wie im glück
Venedig, 4.2.2007
ROM
Das Licht
an den Mauern.
Das Leuchten
in mir.
Rom, Mai 2005
ABEND IN ROM
Ein Abend hineingedunkelt
in eine Frühsommernacht.
In den Straßen und Gassen
das turbulente, laute Leben.
Für viele Liebespaare
Augenblicke der Liebe.
Harmonikamusik und
Stimmen, lautes Lachen.
Lichterglanz an Brunnen,
Palästen, Piazzas, Kirchen.
Platanenäste hinabgewunden
über die Ufer des Tibers.
Kaum hörbar meine Schritte
auf dem noch warmen Stein.
Rom, 30.5.2005
ABENDSPAZIERGANG IN ROM
In der Dämmerung versinken
Kirchen, Plätze, Paläste.
Die Steine der Brücken
sind warm noch vom Tag.
Die geschauten Bilder in mir
beginnen zu leuchten.
Die großen Platanen sind
schwarze Wächter geworden.
Gebäude, Kuppeln und Brunnen
erstrahlen im Scheinwerferlicht.
Auf dem Wasser des Tibers
fließt schimmernd das Gold.
Rom, 23.5.2005
AM CAMPO DE’ FIORI
Mit einem Glas Wein
in der einen,
mit einer Zigarette
in der anderen Hand
sitze ich am Abend
am Campo de’ Fiori,
sehe dem Treiben
der Menschen zu,
sehe die wunderbar
erotischen Mädchen,
sehe Umarmungen
und innige Küsse
und spüre nichts mehr
vom Gewicht der Welt.
Rom, 26.5.2005
WIEDERKEHR NACH ROM
wieder die alten wege gehen
am morgen die tiberufer entlang
unter den herbstlich gefärbten
blättern der großen platanen
über die engelsbrücke gehen
die engel von bernini begrüßen
besonders jenen mit dem kreuz
der dieses hält wie eine geliebte
hinüberschlendern nach trastevere
damals das große musik-erlebnis
der aufführung der messe in c-dur
von joseph haydn am pfingstsonntag
die begegnung mit dem da oben am kreuz
mit diesem stets nur stummen gekreuzigten
jesus von nazareth der an der wand hängt
und ich unterhalb sitzend demütig und klein
dann am campo de fiori entspannung
bei lautem trubel beim ersten glas wein
die wunderschönen vormittagsfrauen
gerade erst verabschiedet den liebsten
schon ausschauend nach dem nächsten
etwas berauscht durch die engen gassen
ziellos einfach nur so dahingehen und mich
treiben lassen wohin es mich eben so treibt
das alles war damals vor so vielen jahren
jetzt bin ich endlich hierher zurückgekehrt
zu dieser herzstation meiner lebensreise
und alles ist wie ein verglühendes feuer
nun noch einmal erlebt tief drinnen in mir
Rom, 7.-10.10.2021
AUGENBLICKE IN ROM
der panoramarundblick die wiederkehr in die stille von
von der hotelterrasse sant’antonio dei portoghesi
hoch oben auf die stadt und dort das leise orgelspiel
der lärm und das treiben das schatten spendende geäst
dieses pulsierende leben an den tiberufern wo wir gehen
auf der piazza navona und ich mich an damals erinnere
das plätschern des wassers die feierliche friedhofsstille
von der großen fontana di trevi am campo santo teutonico
mit den menschenmassen davor gleich beim petersdom
das lächeln der madonna mein tiefes betroffensein
auf einem bild so als würde in der synagoge so als ob
sie mich persönlich begrüßen ich einer von ihnen wäre
deine stets hilfreiche hand das gemütliche biertrinken
da es schwierig für mich ist am turbulenten campo de’ fiori
hindernisse zu überwinden das schreiben eines gedichts
Rom, 15.10.2021
AUF DEM PALATIN
In den stillen Gärten
blüht ein Geheimnis.
Inschriften zeugen
von Vergangenem.
Götterbilder aus Stein
als Torsi vollendet.
Ein sanftes Lächeln
auf einem Gesicht.
Ruinen durchschreiten
in die Vergangenheit.
Die roten Mauern
erglühen im Licht.
Orangen in Bäumen.
Blumen am Weg.
Rom, 23./24.5.2005
IN EINER KIRCHE in Rom
schlagartig bin ich
in einer anderen welt
durch ein kleines fenster
hoch oben in der kuppel
fällt in diese heilige stille
mattes abendlicht herein
und es umhüllt mich so
als wäre ich auserwählt
man hört nur das geräusch
von schritten auf dem boden
dann aber auch den choral
gesungen vom mönchschor
und wiederholt die worte
halleluja halleluja halleluja
später aber dann ebenso das
misericordia misericordia mea
Rom, 9.10.2021
LONDON-IMPRESSIONEN I
alte rote autobusse
paläste boulevards
dazwischen das grün
der großen parks
am straßenrand
in hauseingängen
menschenbündel
in decken gehüllt
ein junger bettler
mit einem hund
die dunklen augen
afrikanischer frauen
das hellblonde haar
einer englischen lady
schwarze limousinen
gleiten lautlos vorbei
neonreklame beleuchtet
grellbunt die szenerie
aus einem solchen bild
fallen buchstaben heraus
irgendwohin in die leere
die alles ringsum umgibt
London, 7./8.5.2002
ABEND IN LONDON
backsteinrot
die kathedrale
weiße bänder
durchziehen
wie lebenslinien
den hellen stein
aufgeblaut hat
nun der himmel
kühl geworden
ist es am abend
alle geräusche
sind verstummt
ich denke zurück
an mein leben
sehe die spuren
vergangener zeit
London, 7.5.2001
WESTMINSTER ABBEY
Georg Friedrich Händel
als graue marmorgestalt
William Shakespeare
mit einer schriftrolle
rote krepppapierrosen
umhüllen gedenktafeln
wappenfahnen gereiht
als zeichen der macht
der krönungsstuhl
aus gehärtetem holz
die marmornen leiber
die steinernen särge
schwarze eisengitter
schwerter und kronen
hingezauberte schönheit
des zarten netzgewölbes
durch die hohen fenster
fällt das letzte tageslicht
London, 9.5.2002
IRISCHE LANDSCHAFT
ein bild
wie im traum
schwarzes wasser
mitten durch’s grün
jenseits des ufers
ein verlassenes haus
ein rotes hausboot
durchkreuzt den kanal
bewegungslos steht
ein weißes pferd
hörbar ein zug
weit in der ferne
auf den steinen
das letzte licht
bald wird es nacht
und dies auch in mir
Monasterevin, 26.7.1999
DAS GROSSE STEINKREUZ
hoch aufragend
das steinerne kreuz
ein zeichen hinein
in den himmel
und rundherum
geschlossen der ring
zeichensprache
für unendlichkeit
nichts geht verloren
trotz der zerstörung
auch an den relikten
lernen wir erkennen
alles ist für immer
miteinander verbunden
nur bindeglieder sind wir
zwischen einst und jetzt
vielleicht eine brücke
hinüber zur ewigkeit
Kloster Glendalough
Dublin, 6.8.1999
DAS KLEINE KREUZ
jahrhunderte lang
steht es schon da
als zeichen und zeugnis
unbekannte geschichte
namenlos ist am ende
menschliches schicksal
nur der himmel kennt
vielleicht das geheimnis
uns bleiben nur zeichen
inschrift mauern aus stein
und das sanfte licht
über den gräbern
Kloster Glendalough
Dublin, 6.8.1999
GLENDALOUGH
Inschriften und Steine
geben noch Zeugnis
von einstiger Größe;
und die Ruinen
von der Vernichtung.
Hoch ragt der Turm auf
zwischen den Kreuzen
und über den Gräbern.
Die Mönche des Hl.Kevin
in dieser Klosterstadt;
vor fast 1.500 Jahren.
Kloster Glendalough
Dublin, 6.8.1999
IRISCHER FRIEDHOF
einen grünen stein
nehme ich mit
von deinem grab
Margaret Nash
geboren 1926
gestorben 1995
braun ist die erde
braun ist das gras
grau sind die steine
der gräber rundum
der wind weht
über die hügel
und alles ist hell
im morgenlicht
Monasterevin, 27.7.1999
AUSBLICK IN IRLAND
im blauen zimmer
erwachen die träume
der blick übers grün
hinunter zum meer
auf der steinmauer
blumen und blüten
fern auf dem hügel
ein einsamer baum
Dingle/Irland, 28.7.2000
DUBLINER SPAZIERGÄNGE
den fluß hinauf
die mauern entlang
wasser und steine
himmel und licht
häuserfronten
und hinterhöfe
da und dort auch
verschlossene türen
der blick hinüber
ans andere ufer
von ferne leuchtet
eine grüne kuppel
markiert ein turm
mir richtung und ziel
autobusse
fahren vorbei
zu endstationen
irgendwohin
sehnsuchtslos
durchstreife ich
verlassene räume
unbekanntes gebiet
immer tiefer gehe ich
hinein in den abend
in die glutrot
erleuchtete nacht
Dublin, 2.8.1999
TRINITY COLLEGE LIBRARY
im dunklen raum
die wände hinauf
in leder gebunden
tausende bücher
niederschrift
geistigen lebens
wissen und forschen
erkenntnis der welt
fragen der menschheit
versuch einer antwort
die große stille im raum
durch ein fenster das licht
Dublin, 2.8.1999
NEWGRANGE
vor mir aufgerundet
und ferne der hügel
die flache kuppe
der gräberstadt
von einem breiten ring
aus steinen umgeben
umschlossen
wie ein kleinod
weit ausgebreitet
das grüne land
die grabkammer innen
der weg für das licht
an einem einzigen tag
für wenige stunden
vor fünftausend jahren
für die ewigkeit gebaut
vollkommene architektur
eines lebendigen lebens
steine steine steine
und von ferne ein licht
Dublin, 8.8.1999
ALLE DIE BRÜCKEN
ging über die brücken
in Sarajevo Mostar Paris
ging über die brücken
in Belgrad Moskau in Wien
ging über die brücken
Venedigs in Hamburg in Rom
ging über die brücken
Amsterdams und in Florenz
ging über die brücken
in London in Zürich in Genf
ging über die brücken
der Donau der Themse
ging über die brücken
der Mosqua des Tiber
ging über die brücke
von Linz nach Steyregg
stehe nun auf der brücke
über die Moldau in Prag
Prag, 7.11.1994
ERINNERUNG AN BUDAPEST
an den beiden ufern der Donau
entlang ging ich am abend dahin
die herbstsonne leuchtete noch hell
die schatten der bäume waren dunkel
in die dämmrige stille der kirchen
trat ich gerne von zeit zu zeit ein
ich erinnerte mich an liebesstunden
an die leidenschaft eines sommers
bronzene statuen blickten gelassen
auf die vergangenen jahrhunderte
ein kind ging mit einem luftballon
an der hand seiner mutter vorbei
draußen an den quais lagen schiffe
winterbereit und schon stillgelegt
ein pack zeitungen lag unbeachtet
auf einem tisch in einem kaffeehaus
ich schlug eine auf und da stand
die nachricht von deinem tod
Zum Gedenken an
den Dichter Zóltan Vér
Budapest/Wien, 13./23.10.2001
SPAZIERGANG IN PRAG
unter der brücke
das schwarze wasser
der Moldau
spielzeugklein
die weißen schwäne
darauf
am ufer verankert
ein grünes schiff
segel flattern im wind
goldene kuppeln
über den dächern
der häuser
majestätisch
die hohen türme
monumental
die skulpturen
verehrungswürdig
das steinerne kreuz
allein und schweigend
gehe ich meinen weg
nebel legt sich schon
auf die hügel rundum
glocken ertönen
und uhren schlagen
mahnend die zeit
Prag, 15.1.2000
IN EINEM PRAGER CAFÉ
das fremde gesicht
eines alten mannes
hinter einem fenster
mit weißem rahmen
auf einer fotografie
in einem Prager Café
sieht mich forschend
und neugierig an
draußen verschimmert
graublau der abend
im letzten licht
die menschen gehen
hastig oder müde
irgendwohin
ein mädchen steht
an der haltestelle
der straßenbahn
da denke ich plötzlich
an einen fernen frühling
an eine vergangene liebe
in einer zeitung sehe ich
das bild von menschen
in kellergewölben
und weiß
in Tschetschenien
ist immer noch krieg
Prag, 14.1.2000
SARAJEVO IM KRIEG
von den hügeln der stadt
plötzlich schüsse hinein
in die menge der menschen
die für den frieden sind
ein opfer ausgesucht
durch das zielfernrohr
die granaten schlagen löcher
in die wände der wohnblocks
von ferne gesteuert
dieser anonyme tod
auf den steinmauern
der festung Vraca
noch immer die namen
der opfer von einst
gewalt und völkermord
als instrument der politik
und später dann wieder
die namen der opfer von jetzt
auf einem anderen mahnmal
mit kränzen und blumen davor
Für Izet Sarajlić, Nermin Tulić, Samir Delić, Dara Sekulić
und die anderen Freunde
Wien, 14.4.1992
ZAGREBER NOTIZEN 3/1992/II
ein müder gardist
im lift neben mir
vom fünfzehnten stock
des hotels panorama
hinunter zum frühstück
hinunter zur rezeption
er keine zwanzig jahre
ich jenseits der fünfzig
er kämpfer im krieg
ich pazifist
er riecht nach schweiß
ich nach eau de cologne
er in kampfstiefeln
ich in modischen schuhen
er mit dem rosenkranz
dem bild der madonna
mit dem messer am gurt
mit dem emblem am barett
ich mit dem reisepaß
in der manteltasche
auf der rückreise
nach wien
Zagreb/Wien, 28.-29.3.1992
ZAGREBER NOTIZEN 3/1992/VII
an jedem morgen
die tourismuspropekte
vom hotel panorama
fein säuberlich aufgelegt
auf den tischen im foyer
vor dem frühstücksraum
die verlogenen werbebilder
versprechen eleganten luxus
aber es gibt keine touristen
und es tagt keine konferenz
die automaten im spielsalon
sind seit langem außer betrieb
die boutiquen geschlossen
überall nur spärliches licht
frauen und kinder beim frühstück
die männer rauchen und reden
sie alle sind hier gestrandet
in einer fremden wirklichkeit
sie haben die heimat verloren
aber doch das leben gerettet
sie alle ahnen es gibt für sie
keine zukunft und kein zurück
Zagreb/Wien, 28.-29.3.1992
AUSGESTOSSEN
an einer straßenecke
irgendeiner ulica
im niemandsland
dieser großstadt
zeigt mir wortlos
ein zigeunerkind
die brandwunden
auf seiner brust
die kinderaugen
blicken ins leere
ich kaufe mich los
von diesem elend
mit einem geldschein
der nicht mehr wert ist
als die zigaretten
in meiner hand
Zagreb, 25.10.1988
HERBST IN ISTANBUL
Weiße Schiffe
liegen im Hafen.
Von den Bäumen
fällt lautlos das Laub.
Am Abend flackert
golden die Sonne
in den Scheiben
der Fenster.
Und schattenlos
zerbricht die Zeit.
Istanbul, 20.10.1999
IM RILA-KLOSTER
drei kerzen
habe ich angezündet
vor dem Muttergottesbild
eine für meinen vater
eine für meine mutter
eine den geschwistern
dann stand ich noch
eine weile im raum
ohne ein gebet
denn ich dachte mir
diese stille ist gut
sie genügt allen
den lebenden
wie den toten
Rila-Kloster in Bulgarien, 2.11.1991
JÜDISCHER FRIEDHOF
HAMBURG
mit einer muslimin
aus Sarajevo
besuche ich hier
den jüdischen friedhof
auf den gräbern
blühen schon narzissen
wir lesen die inschriften
geburts- und sterbedaten
auffallend das fehlen
von datierungen ab 1940
die judenverfolgungen
die nazizeit sage ich
deshalb beim eingang
das denkmal mit namen
und die urne mit
Asche aus Auschwitz
Hamburg, 16.4.1991
HERBST IN BLED
friedvolle stille
liegt über dem see
durch das wasser
gleitet ein boot
das laub ist schon
herbstlich gefärbt
ruhig ziehen
die schwäne dahin
vom himmel fließt
langsam die nacht
über die hügel
herab in das tal
Wien, 9.10.1986
HIER JETZT IN MOSKAU
der blick hinaus
in die schwarzblaue nacht
ein flecken himmel erleuchtet
von den scheinwerfern des Kreml
mein blick tief hinein und zurück
in meine kindheit ins damals zurück
ich sehe mich am fenster stehen als kind
ich schaue hinaus in den kriegswinter
die leuchtspuren von granaten geschützen
zeichnen den tod hinein in den himmel
später die schwarzen stiefel auf dem boden
die rauhen worte einer fremden sprache im raum
Aljoschas schönes gesicht sein helles lachen
unauslöschlich die angst in den gesichtern der menschen
damals nach dem großen krieg nach dem großen morden
für wahnsinnsideen zur verteidigung des vaterlandes
damals vor fast fünfzig jahren ich ein kleines kind
in einer schwarzblauen nacht mit leuchtspuren am himmel
jetzt sitze ich hier an einem küchentisch spätnachts
in einer wohnung in Moskau und sehe die bilder der kindheit
so klar im gedächtnis wie die bilder von heute und jetzt
die frage von damals als kind wann fahre ich endlich
nach Rußland nach Moskau hat ihre antwort gefunden
denn jetzt bin ich hier bin angekommen auch ich
und schreibe wort für wort auf papier die zeichen des lebens
denke und frage was sind denn nun die zeichen des lebens
für mich für jeden von euch für uns alle und stelle die frage
was lebt in mir als zeichen des lebens als zeichen der zeit
was ist lebendig geblieben was bedeutet des lebens geheimnis
am ende als ganzes die liebe der tod die freiheit das wort
immer sind wir von allem ein rest nur ein bruchstück ein torso
so denk ich oder sind wir nur Gottes geheime verlorene spur
Moskau, 12.10.1994
PETERSBURGER NÄCHTE
so sind wir durch die nacht gegangen
der himmel war noch voller abendrot
silbrig schwarz glänzte die Newa
an einer straßenecke an einem kiosk
habe ich eine flasche kognak gekauft
die haben wir dann langsam leer getrunken
ich habe mich erinnert an die gesichter
von Aljoscha Sergej und den andern
Swetlana und Julia gingen arm in arm mit mir
durch diese herrliche St.Petersburger-Nacht
wir schickten flaschenpost ins niemandsland
wer wird sie finden wo wird sie stranden
wieder einmal provozierte antwortlosigkeit
aber wie schön wie poetisch sagte Swetlana
Julia lachte und meinte ein flaschengedicht
das paßt gut zu dir mein romantischer dichter
unsere gesichter leuchteten rot und erhitzt
im schein der straßenlaternen am uferweg
wieder sah ich viele gestalten der kindheit
vor mir wie in einem schattentheater von damals
jetzt auf der wasseroberfläche der Newa tanzen
ich hörte das laute lachen von Peter dem Großen
wir sangen ein lied klatschten und tranken
den himmel das licht den kognak das wasser
des stroms und waren jenseits von grenzen
und meinten wir seien auch frei
St. Petersburg, 10.10.1994
PANORAMA ST. PETERSBURG
von den kollonadengängen
der St. Isaakskathedrale herab
der phantastische rundblick
über die herrliche stadt
dort ist die Eremitage
mit meinem zeigefinger
zeige ich in die ferne
das lächeln eines mädchens
bezaubert mich eine weile
dann denke ich an die toten
hunderttausende hungertote
in der eingeschlossenen stadt
Leningrad damals im winter 1941/42
ich höre den donner der geschütze
von der Aurora im Oktober 1917
plötzlich musik von irgendwoher
die sonne erleuchtet jetzt grell
einen streifen himmel am horizont
im abendrot erglüht das häusermeer
eine kuppel glänzt golden im licht
so hell daß es schmerzt in den augen
der schmerz bewahrt die erinnerung
sage ich plötzlich laut vor mich hin
der ton einer schiffssirene von ferne
New York fällt mir ein die hafenszenerie
unser spaziergang im winter die möwen
wer bin ich was tue ich hier und wozu
den russischen oberst seh ich vor mir
wie er Rilke-Sonette zitiert 1946
in meinem elternhaus in der diele
noch einmal mein blick über das panorama
der stadt die kirchen paläste die parks
dann steige ich wieder die stufen hinunter
trete noch einmal vor das bild der Madonna
entzünde das licht einer kerze vielleicht
damit es mir leuchtet im dunkel der nacht
St. Petersburg, 8.10.1994
ABSCHIED IN DUBROVNIK
wir trinken wein
im lautlosen dunkel
der angebrochenen nacht
immer wieder der blick
auf die erleuchtete stadt
filmkulisse märchenwelt
von den vielen worten
sind wir am ende doch
ins schweigen gekommen
wir spüren das gewicht
eines abschieds für immer
schmerzhaft ist die berührung
nichts erreicht noch sein ziel
alles verlöscht im bruchteil
einer zerbrechenden zeit
die weißen perlen der kette
schimmern an deinem hals
deine haut duftet nach zimt
an einem orangenbaum über uns
sind blüten und früchte zugleich
windbewegt im schwarzen geäst
wirst du wiederkommen fragst du
vielleicht im sommer im herbst
nein sage ich und du weißt es
Dubrovnik, 22.4.1993
ABSCHIED VON ROM II
Die geschauten Bilder
nehme ich mit mir mit.
Die milde Sehnsucht
nach Kuppeln im Licht.
Das Grün des Tibers.
Den Platanenschatten.
Das Wasserrauschen
römischer Brunnen.
Den Lärm in der Nacht,
fast bis zum Morgen.
Die Schreie der Möwen
über den Häuserdächern.
Die Erinnerung an uns wie
an ein vergangenes Leben.
Doch etwas wird bleiben
und warten auf mich.
Rom, 23.5.2005
RÜCKKEHR NACH WIEN
ankommen solltest du am besten
an einem kalten tag im oktober
in den ersten stunden des tages
wenn das harte licht der sonne
im schmalen winkel die fassaden
der paläste und häuser bestrahlt
an einem bahnhof verläßt du
unausgeschlafen den nachtzug
niemand wird dich erwarten
du bist wie immer allein
doch du kennst diese stadt gut
ebenso wie deine erinnerungen
paketwagen rollen an dir vorbei
frachtgut von ferne aus übersee
plötzlich fühlst du dich fremd
noch bevor du wirklich da bist
alles ist bruchstück denkst du
erinnerst dich an den abschied
immer nur diese aufenthalte
ohne ein wirkliches bleiben
nichts berührt dich wirklich
du denkst an deine geliebte
aber du bleibst gleichgültig
ein taxi biegt um die ecke
du steigst mechanisch ein
kramst nach deinen schlüsseln
in einer deiner hosentaschen
denkst an den jüdischen schneider
sagst plötzlich Auschwitz Treblinka
der taxifahrer dreht sich nach dir um
du beginnst eine geschichte zu erzählen
denkst an deine verlassenen kinder
an die märchen spätnachts ihr weinen
denkst alle worte sind bedeutungslos
und alles gerede ist sinnlos und leer
du siehst den schwarzen sarg in der kirche
umgeben von vielen kränzen und blumen
jemand fällt dir ins wort da du sprichst
über die wiesenhügel gehst du barfuß
der tau benetzt deine wunden füße
eine möwe stürzt vom himmel herab
und ein pfeil trifft dich mitten ins herz
Wien, 15.10.1992